Kurzvorstellung der Machbarkeitsstudie

Im Zeitraum von Mai 2021 bis Februar 2022 führten wir eine Machbarkeitsstudie mit dem Titel:

„Einsatz von maschinellem Lernen zur Vorhersage von Therapieverläufen bei Patienten mit einer Schädigung des Gehirns: eine explorative Datenanalyse zur Prüfung der Machbarkeit“

durch, die über das Förderprogramm Distr@l: Digitalisierung stärken – Transfer leben des Hessischen Ministeriums finanziell gefördert wurde.

Hintergrund der Studie ist, dass neurologische Erkrankungen motorische, kognitive und psychische Beeinträchtigungen verursachen. Sie gehören zu den häufigsten Ursachen für Behinderungen im Erwachsenenalter, beeinträchtigen ein unabhängiges Leben und stellen eine enorme gesundheitliche und volkswirtschaftliche Belastung für die Gesellschaft dar (Chin & Vora, 2014; Olesen et al., 2012; Semprini et al., 2018; Turner et al., 2013). Bis heute leiden weltweit mehr als eine Milliarde Menschen an neurologischen Erkrankungen, Tendenz steigend (Semprini et al., 2018). Durch eine sich stetig verbessernde Intensivmedizin konnte die Überlebenschance bei schwerwiegenden Hirnschädigungen in den letzten Jahren deutlich verbessert werden. Dadurch sehen wir in der Praxis zunehmend schwer- und schwerstbetroffene Patienten, die einer Rehabilitation bedürfen – eine ganz neue Herausforderung für die Neurorehabilitation.

Neuroneum kombiniert klassische Therapiemethoden mit modernster Robotik auf Basis eines transdisziplinären Behandlungskonzepts. Gerade für schwer betroffene Patienten gewinnen robotische Systeme zunehmend an Bedeutung, da sie neue neue Therapiemöglichkeiten eröffnen, die im Rahmen von klassischen Therapieansätzen bislang undenkbar waren (Turner et al., 2013). Die Frage, welche Therapieinhalte und Kombinationen notwendig sind, um ein bestmögliches Outcome für den Patienten zu erreichen, wurde bislang noch nicht untersucht. Wissenschaftliche Analysen über interdisziplinäre Versorgungskonzepte, die klassische und robotergestützte Therapien kombinieren, gibt es bisher nicht.

Ziel der Machbarkeitsstudie war die wissenschaftliche Begleitung des transdisziplinären Behandlungskonzepts mithilfe des „Selbstständigkeitsindex für neurologische und geriatrische Rehabilitation“ (SINGER) als standardisiertes, validiertes, sensitives und ICF-basiertes Einstufungsverfahren, das 20 Aspekte der Selbständigkeit in den Aktivitäten des alltäglichen Lebens erfasst und sich für die Neurorehabilitation eignet (Gerdes et al., 2012; Pöppl et al., 2015). In der Praxis hat er den in den 60er Jahren entwickelten Barthel-Index zunehmend abgelöst. Charakteristisch für den SINGER ist vor allem die inhaltliche Definition der 6 Abstufungen für jedes Item, die sich nicht am Ausmaß der Einschränkung, sondern an der Art des aktuellen Hilfebedarfs bei der betreffenden Aktivität orientiert.

Für die Datenanalyse wurden 60 Patienten (männlich = 38, weiblich =  22; MW = 49 ± 24 Jahre) mit neurologischen Erkrankungen inkludiert. Alle Patienten erhielten mit Krankheitsbeginn eine stationäre Akut-Versorgung. Zum Zeitpunkt des Studienbeginns waren sechs Patienten subakut[1] und 54 Patienten chronisch[2]. Geplant war die Erhebung des SINGER im Rahmen der Patientenbesprechungen alle sechs Wochen. Im Durchschnitt wurde der SINGER alle 49 Tage erhoben. Die minimale Zeitspanne lag bei 12 Tagen, die maximale Zeitspanne bei 140 Tagen. Bei allen Patienten wurde der SINGER an mindestens zwei Erhebungszeitpunkten erhoben. 19 Patienten haben drei Erhebungszeitpunkte, 14 Patienten haben vier, 5 Patienten fünf und ein Patient hat sechs Erhebungszeitpunkte. Abbildung 1 (links) zeigt den Verlauf der SINGER-Gesamtscores aller Patienten über ihre Erhebungszeitpunkte im Laufe der Rehabilitation. Bezogen auf den ersten Erhebungszeitpunkt haben sich 24 Patienten im SINGER-Gesamtscore verbessert, 23 Patienten konnten ihren Status halten, 13 Patienten haben sich verschlechtert. Zusätzlich zeigen subakute und chronische Patienten unterschiedliche Verhaltensmuster. Fünf der sechs subakuten Patienten haben sich verbessert, ein Patient stabilisierte seinen Status. Bei den chronischen Patienten verbesserten sich 19 Patienten, 22 konnten ihren Status stabilisieren, 13 Patienten haben sich verschlechtert (siehe Abbildung 1 rechts). Fallbeobachtungen der 13 Patienten weisen außerordentliche Ereignisse (z.B. Koma, epileptische Anfälle) während des Rehabilitationsverlaufs auf.

Abbildung 1: Verlauf der SINGER-Gesamtscores aller Patienten über ihre Erhebungszeitpunkte; links: alle Patienten; rechts: alle Patienten gruppiert in chronisch (rot) und subakut (grün)

In Abbildung 2 ist der Zusammenhang des SINGER-Fortschritts und der Therapiezeit dargestellt. Bei den subakuten Patienten liegt ein signifikant positiver Zusammenhang zwischen dem SINGER-Fortschritt und der Therapiezeit vor (r = 0.892; p = 0.017). Demnach verbessern sich die subakuten Patienten in Abhängigkeit zur Therapiezeit, die chronischen Patienten können ihren Status stabilisieren.

Abbildung 2: Zusammenhang des SINGER-Fortschritts und der gesamten Therapiezeit von allen Patienten gruppiert in chronisch (rot) und subakut (gün) mit Regressionsgerade

Zusammenfassend zeigt sich, dass die subakuten Patienten Verbesserungen im SINGER-Gesamtscore im Laufe der Rehabilitation aufweisen, chronische Patienten können ihren Status halten und somit weitergehenden Pflegebedarf verhindern. Anzumerken ist, dass die chronischen Patienten zum Zeitpunkt des Studienbeginns bereits mehrere Jahre mit klassischer und robotergestützter Therapie auf Basis eines transdisziplinären Behandlungskonzepts bei neuroneum therapiert wurden und die Machbarkeitsstudie nur den Studienzeitraum Mai 2021 bis Februar 2022 umfasst. In Zukunft wird die Erhebung des SINGER direkt zu Beginn der ambulanten Neurorehabilitation erfolgen, um den gesamten Rehabilitationsverlauf bei neuroneum abzubilden.

Zusätzlich gibt es bei den subakuten Patienten einen signifikanten, stark positiven Zusammenhang zwischen dem Fortschritt im SINGER und der gesamten Therapiezeit. Je höher die Therapiezeit, desto stärker sind die Verbesserungen im SINGER. Die Ergebnisse bekräftigen vergangene wissenschaftliche Untersuchungen, die die Wichtigkeit einer frühzeitigen, intensiven und qualitativ hochwertige Rehabilitation im Anschluss an die Akutversorgung aufzeigen, um pathologische Muster und Chronifizierungen der Schädigungsbilder zu verhindern. Obwohl jüngste klinische Studien gezeigt haben, dass sich Funktionen auch noch nach mehreren Jahren verbessern können, existiert ein kritisches  Fenster von ca. sechs Monaten nach der Gehirnschädigung, in dem die Regeneration und Reorganisation aufgrund höherer neuroplastischer Prozesse optimal stattfinden kann (Nagappan et al., 2020; Nudo, 2013). Oftmals wird zu spät mit einer zielgerichteten Rehabilitation begonnen.

Darüber hinaus machte die Machbarkeitsstudie verschiedene methodische Herausforderungen und Potentiale deutlich. Erstens bleibt die Wahl eines geeigneten diagnoseunabhängigen Assessments, insbesondere bei einer sehr heterogenen Patientenstichprobe, herausfordernd. Für die Machbarkeitsstudie wurde der SINGER als standardisiertes, validiertes, sensitives, ICF-basiertes und diagnoseunabhängiges Einstufungsverfahren als Hauptzielgröße gewählt. Trotz der vielen Vorteile anderen Assessments gegenüber, wird er in Zukunft erneut diskutiert. Zweitens werden die Rehabilitationszeiträume und -verläufe durch viele verschiedene Faktoren beeinflusst, auf die im klinischen Therapiealltag flexibel reagiert werden muss. Die Herausforderung besteht in der Komplexität des Rehabilitationsprozesses und der Vielzahl der Einflussgrößen, die den Rehabilitationsverlauf bedingen, verstärken oder verhindern. Die Machbarkeitsstudie machte das Potential in der operativen Durchführung deutlich, um den Herausforderungen der großen Streuungen und Variabilität in zukünftigen Projekten so gut wie möglich begegnen zu können.

Referenzen

Chin, J. H., & Vora, N. (2014). The global burden of neurologic diseases. Neurology, 83(4), 349–351. https://doi.org/10.1212/WNL.0000000000000610

Gerdes, N., Funke, U.-N., Schüwer, U., Themann, P., Pfeiffer, G., & Meffert, C. (2012). „Selbständigkeits-Index für die Neurologische und Geriatrische Rehabilitation (SINGER)“ – Entwicklung und Validierung eines neuen Assessment-Instruments [„Scores of Independence for Neurologic and Geriatric Rehabilitation (SINGER)“ – development and validation of a new assessment instrument]. Die Rehabilitation, 51(5), 289–299. https://doi.org/10.1055/s-0031-1287805

Nagappan, P. G., Chen, H., & Wang, D.-Y. (2020). Neuroregeneration and plasticity: A review of the physiological mechanisms for achieving functional recovery postinjury. Military Medical Research, 7(1), 30. https://doi.org/10.1186/s40779-020-00259-3

Nudo, R. J. (2013). Recovery after brain injury: Mechanisms and principles. Frontiers in Human Neuroscience, 7, 887. https://doi.org/10.3389/fnhum.2013.00887

Olesen, J., Gustavsson, A., Svensson, M., Wittchen, H.-U., & Jönsson, B. (2012). The economic cost of brain disorders in Europe. European Journal of Neurology, 19(1), 155–162. https://doi.org/10.1111/j.1468-1331.2011.03590.x

Pöppl, D., Deck, R., Gerdes, N., Funke, U.-N., Kringler, W., Friedrich, N., Kohlmann, T., & Reuther, P. (2015). Eignung des SINGER als Assessmentinstrument in der ambulanten neurologischen Rehabilitation [Suitability of the SINGER as a tool for assessment in outpatient neurological rehabilitation]. Die Rehabilitation, 54(1), 22–29. https://doi.org/10.1055/s-0034-1394451

Semprini, M., Laffranchi, M., Sanguineti, V., Avanzino, L., Icco, R. de, Michieli, L. de, & Chiappalone, M. (2018). Technological Approaches for Neurorehabilitation: From Robotic Devices to Brain Stimulation and Beyond. Frontiers in Neurology, 9, 212. https://doi.org/10.3389/fneur.2018.00212

Turner, D. L., Ramos-Murguialday, A., Birbaumer, N., Hoffmann, U., & Luft, A. (2013). Neurophysiology of robot-mediated training and therapy: A perspective for future use in clinical populations. Frontiers in Neurology, 4, 184. https://doi.org/10.3389/fneur.2013.00184


[1] Subakut = 7 Tage bis 6 Monate nach Krankheitsbeginn

[2] Chronisch = > 6 Monate nach Krankheitsbeginn und bislang ohne ambulante neurologische Rehabilitation