Ansprache der Vorsitzenden
der Kinderneurologie-Hilfe Frankfurt Rhein-Main e.V.
Dr. Claudia Müller-Eising

anlässlich des Empfangs der Stadt Frankfurt am Main am 11. März 2014 im Kaisersaal des Frankfurter Römer Sehr geehrte Frau Stadträtin von Plottnitz, sehr geehrter Herr stellvertretender Stadtverordnetenvorsteher Baier, sehr geehrte Stadtverordnete, liebe Tagungsteilnehmer, liebe Freunde, meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist uns eine große Ehre, dass die Stadt Frankfurt anlässlich der Tagung neuroneum heute hier im Kaisersaal des Römer diesen Empfang ausrichtet, in der „gudd Stubb“ der Stadt, wie man es auf hessisch auszudrücken pflegt. Seine Wände ziert eine vollständig erhaltene Galerie aller Kaiser und Könige des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. In einer Vitrine ist eine Kopie der Goldenen Bulle von 1356, dem Grundgesetz des Heiligen Römischen Reiches, ausgestellt. Der Kaisersaal ist auch die Wiege der Demokratie. 1848 sollte hier die deutsche Nationalversammlung, das erste frei gewählte Parlament tagen, die Versammlung musste jedoch aus Platzgründen in die benachbarte Paulskirche ausweichen. Die Wiege der Neurorehabilitation steht ebenfalls in Frankfurt. Der Neurologe und Psychiater Kurt Goldstein gründete 1916 in Frankfurt die erste neurologische Rehabilitationsklinik in Deutschland: ein Lazarett für hirnverletzte Soldaten am Senkenbergischen Institut für Pathologie. Auslöser waren die beiden Weltkriege, die eine enorm hohe Anzahl durch Kopfschüsse hirnverletzter Soldaten hervorbrachten. Gab es in früheren Kriegen nur sehr wenige, die eine Kopfschussverletzung überhaupt überlebten, so veränderte sich dies mit dem medizinischen Forschritt zusehends. Zunächst im 1. Weltkrieg, aber noch viel entscheidender mit dem 2. Weltkrieg. Zu Beginn des 2. Weltkrieges war jedem Wehrbereich ein eigenes Sonderlazarett für Hirnverletzte zugeordnet. Die Vielfalt der beobachteten Funktionsbeeinträchtigungen und Störungen erforderte neue psychodiagnostische Methoden und damit ein Umdenken in der Neurologie. Bis dahin wurde die Psychologie bestimmt von der Psychophysik und der experimentellen Psychologie, erforscht an gesunden Menschen. Man war bestrebt, messbare und vergleichbare Ergebnisse psychischer Funktionen zu erzielen. Die hirnverletzten Soldaten zeigten jedoch ganz unterschiedliche Störungen im Bereich der Exekutivfunktionen, der Kognition, des Sozialverhaltens und der emotionalen Steuerung. Dies erforderte zunehmend eine Veränderung der Diagnostik. Es wurden nicht mehr die Leistungsdefizite selbst erfasst, sondern ihre Auswirkungen auf die konkrete Lebensgestaltung. Goldstein konnte spektakuläre Erfolge in der Therapie seiner Patienten verbuchen und kritisierte schon sehr früh ein ausschließlich an topographischen Hirnkarten orientiertes Verständnis von Hirnfunktionen und räumlich starr lokalisierter Funktionszentren. Die Symptome der Schädelhirnverletzten begriff er nicht als pathologische Ausfälle, sondern als Versuch des Gehirns und des gesamten Organismus, nach einer Schädigung des Gehirns als der zentralen Steuereinheit, wieder eine neue Balance zu finden. Goldstein vertrat die Annahme, dass der Ort einer Hirnläsion nicht identisch ist mit dem Ort der Hirnfunktion. Aus dieser Erkenntnis heraus ergaben sich völlig neue Ansätze zur psychologischen Analyse und zur Behandlung hirnverletzter Menschen. Die wissenschaftlichen Studien von Kurt Goldstein haben letztlich zur Begründung der Neuropsychologie als neue wissenschaftliche Disziplin beigetragen. Goldstein stellte die Frage, ob eine restitutive oder eine kompensatorische Therapie für Schädelhirnverletzte besser sei. Können wir nach einer Hirnschädigung frühere Funktionen wieder erlangen oder müssen wir Ersatzstrategien erlernen? Ein ganz zentraler Punkt seiner Arbeit war die Erkenntnis, dass sowohl das Wiedererlangen von Funktionen als auch die Kompensation erfolgreich nur im Alltag der Betroffenen gelingen kann, das heißt orientiert an den konkreten Aufgabenstellungen in der Familie und im Berufsleben. Goldstein war mit diesem holistischen Ansatz sehr erfolgreich. Obwohl diese wissenschaftlichen Erkenntnisse schon 100 Jahre alt sind, bilden sie heute noch lange nicht die Grundlage jeder neurologischen Rehabilitation eines Schädelhirntraumas, schon gar nicht und dies gilt es besonders hervorzuheben, bei Kindern und Jugendlichen. Die neuropsychologische Diagnostik und Therapie als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung wurde am 24. Februar 2012 gesetzlich verankert – also erst vor zwei Jahren! Insbesondere bei leichteren Hirnverletzungen, wie der Gehirnerschütterung, ist die neuropsychologische Diagnostik oder gar ein Follow-Up noch immer die Ausnahme. Wir wissen jedoch heute, dass auch leichtere Hirnschädigungen, die zunächst keine oder nur leichte Beeinträchtigungen zeigen, gerade bei Kindern im Laufe der weiteren Entwicklung signifikante Störungen auslösen können. Werden diese aufgrund des kindlichen Stadiums im Kindergarten- oder Grundschulalter noch kompensiert, treten die Probleme, wenn es um die weiterführende Schule geht, zunehmend zu Tage. Die Entwicklungskurve verläuft in der Regel flacher als bei nicht verletzten Altersgenossen und es kommt zu erheblichen schulischen und sozialen Problemen. Die Kinderneurologie-Hilfe Frankfurt Rhein-Main betreut mehrere dieser Kinder, die irgendwann nicht mehr oder nur unter sehr schweren Bedingungen beschulbar sind, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Die Kinderneurologie-Hilfe setzt sich daher vehement dafür ein, dass jeder Betroffene, jedes Kind nach einer signifikanten Gehirnerschütterung eine qualifizierte und altersgerechte neuropsychologische Testung erhält. Neben einer flächendeckenden neuropsychologischen Diagnostik treten wir für eine Neurorehabilitation im Sinne eines Case-Managements ein. Auch dieser Ansatz ist nicht neu. Der Neurologe Viktor von Weizäcker, der 1945 in Heidelberg Ordinarius des neuen Lehrstuhls für Psychosomatik wurde, führt aus, dass man eine Funktion überhaupt nur im Verbund mit allen Funktionen üben könne, welche zu einer Gesamtleistung beitragen. Die sogenannte Einzelfunktion existiere seiner Auffassung nach gar nicht, sie sei eine Abstraktion. Die Steuerung der neurologischen Therapie nach einer Hirnschädigung im Sinne des Case-Managements ist der entscheidende Schlüssel zum Erfolg der Behandlung. Wenn unser Gehirn als zentrale Steuereinheit von einer Schädigung betroffen ist, so zeigen sich regelmäßig Störungen in unterschiedlichen Funktionsbereichen. Die neurologische Rehabilitation muss daher dem holistischen Ansatz folgend die einzelnen Behandlungen einem Ziel unterordnen und aufeinander abstimmen. Dies geschieht heute im 21. Jahrhundert in Deutschland allenfalls in stationären Neurorehabilitationseinrichtungen, im ambulanten Bereich so gut wie gar nicht. Obwohl dieses Verständnis nicht neu ist, ist es bei den Kostenträgern noch nicht oder nur ganz vereinzelt angekommen. Es gibt kaum einen Fall, bei dem die Kinderneurologie-Hilfe sich nicht mit dem medizinischen Dienst der Krankenkassen über die Notwendigkeit und den Mehrwert einer zentralen Steuerung der Therapien auseinandersetzen muss. Die Begründungen sind zum Teil abenteuerlich und zeugen von wenig Kompetenz in diesem Bereich. Regelmäßig lesen wir, das könne doch der Kinderarzt, der Hausarzt oder der behandelnde Neurologe mit übernehmen; oder die Therapeuten können doch von den Betroffenen im Wege der Schilderungen ihrer Beschwerden instruiert werden. In diesem Kreis muss ich die Absurdität dieser Argumentation nicht weiter darlegen. Ein solches Vorgehen erfüllt nicht den gesetzlichen Anspruch, der dem Hirnverletzten zusteht. Gemäß Sozialgesetzbuch haben gesetzlich Versicherte einen Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die notwendig sind, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern. Case-Management und neuropsychologische Diagnostik sind zwingend Bestandteile der Neurorehabilitation. Dabei sind sie nur zwei zentrale Aspekte, um den Rahmen für die richtige Therapie abzustecken. Aus praktischer Sicht greift hier häufig das Prinzip „Versuch macht klug“: was bei dem einen Patienten gut klappt, hat beim nächsten nur mäßigen Erfolg, bei dem dann wiederum eine andere Therapie überraschend gut anschlägt. Therapeuten leben ganz wesentlich von ihrer eigenen Erfahrung mit schädelhirnverletzten Patienten, aber sie sind natürlich auch interessiert, die neusten Erkenntnisse der Wissenschaft umzusetzen. Gerade die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren einen unglaublichen Erkenntnisfortschritt erlebt – jeder weitere Erkenntnisgewinn wirft jedoch weitere Fragen auf. Ohne ein tiefes Verständnis davon, wie unser Gehirn funktioniert bzw. wie es nach einer Schädigung funktioniert, kann es im therapeutischen Bereich nur eine begrenzte Weiterentwicklung geben. Umgekehrt kann die Wissenschaft im Bereich der Neurorehabilitation nicht ohne weiteres auf die Langzeit-Beobachtungen der Therapeuten verzichten, die täglich mit den Patienten arbeiten. Diese Beobachtungen fließen in zahlreiche Studien ein und nur durch die Veröffentlichung solcher Studien entwickelt sich ein Erkenntnisfortschritt auf breiter Basis. Kurz gesagt, ohne Diskurs zwischen Wissenschaftlern, die im Bereich der Neurowissenschaften mit Blick auf die Neurorehabilitation forschen und Praktikern
  • seien es die in der stationären Rehabilitation tätigen Ärzte und Therapeuten,
  • die ambulanten Therapeuten, die außerhalb des klinischen Umfeldes die unterschiedlichsten Therapien durchführen,
  • die Case-Manager, die einen Patienten langfristig begleiten
ohne eine Zusammenarbeit all dieser Gruppen ist eine nachhaltige Verbesserung der Rehabilitationsmöglichkeiten schädelhirnverletzter Menschen – Kinder und Jugendliche oder Erwachsene – nicht vorstellbar. Die Fachtagung neuroneum hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Diskurs zwischen Wissenschaft und Praxis zu fördern. An zwei Tagen tragen international anerkannte Wissenschaftler aus dem In- und Ausland zu neusten Forschungsergebnissen sowie zahlreiche Praktiker zu unterschiedlichsten Aspekten der Gestaltung und Umsetzung von Therapiekonzepten vor. Ich freue mich sehr, dass wir für diese Tagung Referenten aus ganz Deutschland, aber eben auch aus Brasilien, den USA und Österreich gewinnen konnten. Ich hoffe, dass die Tagung für alle Referenten und Teilnehmer im bereits ausgeführten Sinne einen Erkenntnis- und Erfahrungsfortschritt schafft. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Blick zurückwerfen in die Anfangsphase der Kinderneurologie-Hilfe. Im Februar 2011 konnten wir mit einem „Abend für Kopf & Herz“ einen wichtigen Grundstein für unsere Arbeit legen. Damals wie heute konnten wir uns auf zahlreiche Unterstützer verlassen, unter anderem auf die Stadt Frankfurt. Die damalige Gesundheitsdezernentin Manuela Rottmann trat als Fürsprecherin der Sache auf und in der Folge wurde unsere Arbeit von der Stadt Frankfurt respektive dem Amt für Gesundheit auch finanziell unterstützt. Der Empfang heute hier im Kaisersaal ist daher kein Auftakt, er unterstreicht vielmehr die wohlwollende und anerkennende Begleitung unseres Engagements durch die Stadt Frankfurt. Dafür danke ich Ihnen, Frau von Plottnitz, und Ihnen Herr Baier, als Repräsentanten der Stadt sehr sehr herzlich. Aber nicht nur der Stadt danke ich an dieser Stelle. Unser Dank gilt auch:
  • der Goethe-Universität Frankfurt, besonders Herrn Vizepräsident Prof. Manfred Schubert-Zsilavecz
  • dem Universitätsklinikum Frankfurt, Herrn Prof. Jürgen Schölmerich, Herrn Prof. Volker Seifert und Herrn Prof. Matthias Kieslich
  • dem Verein Frankfurter Stiftungskrankenhäuser respektive dem Clementine-Kinderhospital – Dr. Christ’schen Stiftung
  • der Kinderhilfestiftung
  • der Unfallkasse Hessen
  • dem Bankhaus Hauck & Aufhäuser
  • dem Unternehmen KPMG
  • dem Land Hessen
  • der Tourismus + Congress Gesellschaft
  • dem Modehaus Pfüller
  • dem Autohaus Luft
  • und und und
es gibt noch so viele, die es ebenfalls verdient hätten, heute hier genannt zu werden. Bitte fühlen Sie sich alle aufs herzlichste in diesen Dank mit eingeschlossen. Eine Organisation ist immer nur so gut, wie es die Mitarbeiterinnen u. Mitarbeiter sind. Stellvertretend für alle festen und freien Mitarbeiter der Kinderneurologie-Hilfe danke ich daher unserer Geschäftsführerin, Bettina Chevalier, die von der ersten Stunde an dabei ist, für ihr Engagement und ihre Leidenschaft in der Sache. Die Fachtagung neuroneum ist ein wichtiger Meilenstein für die Kinderneurologie-Hilfe. Bleibt die Frage: wie geht es weiter? Für die Zukunft sehen wir drei Felder, auf denen wir uns hervortun möchten:
  • Die flächendeckende neuropsychologische Diagnostik im Rhein-Main-Gebiet
  • Die Entwicklung eines Präventionsprogramms in Zusammenarbeit mit Sportverbänden und Sportvereinen
  • Und nicht zuletzt ein Projekt, welches mir eine Herzensangelegenheit ist: ein ambulantes / mobiles Neurorehabilitationszentrum im Rhein-Main-Gebiet, das an die Arbeit und Erkenntnisse von Kurt Goldstein anknüpft.
Einen Namensgeber hätten wir folglich schon, Ideen zum Thema Anschubfinanzierung und Räumlichkeiten nehmen wir gerne entgegen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit